Zahlenflut

20.11.2015

[caption id="attachment_55" align="alignright" width="388"] Jeannie Schneider, 19, studiert Politikwissenschaften an der Uni Zürich und Vorstandsmitglied der JUSO Stadt Zürich. Per Ende November tritt sie aus dem Vorstand zurück.[/caption]
Zahlen. Tagtäglich berieselt uns eine niemals enden wollende Flut von ihnen. Viele von ihnen alarmieren uns. Manchmal ist es nur der Blick aufs Ziffernblatt, der uns zeigt, wie spät, oder früh, es schon ist.
Manchmal ist es das neue Jahr, dessen neue letzte Ziffer viel zu schnell gekommen ist. Aber wenige von ihnen begreifen wir wirklich. Im Moment befinden sich fast sechzig Millionen Menschen auf der Flucht. Das ist eine ominös grosse Zahl, aber was heisst sie überhaupt? Und dann kommen Vergleiche wie „würden sich alle Flüchtlinge in einer Menschenkette aufreihen, wäre diese fünfhunderttausend Fussballfelder lang“ - Danke für nichts.
Ich bin mir nicht einmal der Ausmasse eines Fussballfeldes bewusst, was wohl teilweise an meinem natürlichen Desinteresse für Ballsportarten liegt, aber wirklich nützlich ist dieser Vergleich wohl für niemanden. Wenn wir schon das blosse Ausmass nicht begreifen, wie soll man mit dieser Zahl umgehen können? Wir können es eben nicht, lassen uns hinreissen zu überschwänglich emotionalen Ausschweifungen, und zwar sowohl bei den Helfer_innen, als auch bei den Skeptiker_innen. Allerdings ist es einfach Zahlen Zahlen zuzuordnen, zu berechnen wie viel ein Flüchtling kostet. Wie sehr das Staatsbudget belastet wird, wenn wir hunderttausend aufnehmen und für alle Unterkunft und Unterhalt bezahlen müssen. Es kommt eine Zahl auf uns zu, aber können wir sie in einen Betrag umrechnen? Ab welchem Ausmass wird ein Mensch zur blossen Ziffer?
Doch Zahlen müssen gar kein so grosses Ausmass annehmen, um nicht minder zu schockieren und fassungslos zu machen. Am vergangenen Freitagabend fanden an sechs Orten in und um Paris Attentate des Daesh statt. Sie schossen willkürlich auf Menschen und sprengten sich inmitten von Menschenmengen in die Luft. Hundertneunundzwanzig Personen kamen dabei ums Leben. Dreihundertzweiundfünfzig sind teils lebensgefährlich verletzt. Sieben Terroristen wurden getötet. Sieben weitere Verdächtige wurden festgenommen. Inzwischen sind diese Zahlen wohl nicht mehr aktuell, weil sie fast stündlich korrigiert wurden und werden. Europa steht unter Schock. Und ich habe nachgezählt: Von meinen achthundertfünfzehn Facebook Freunden haben über hundert ein Profilbild in Farben der grande nation. Um ihre Trauer auszulassen, ihr Mitgefühl auszusprechen, ihre Hilflosigkeit auszudrücken.
Warum lassen uns diese Ziffern erzittern? Sie stehen sinnbildlich für Gewalt und Hass. Sie erschüttern die Grundfesten unserer Weltanschauung, in der
niemand für seine oder ihre Ansichten sterben sollte. Und vor allem, sind wir ehrlich, erschüttert uns die schiere Nähe der Ereignisse. Denn auch hier spielt die Anzahl Nullen eine Rolle, je grösser die Distanz zu den Geschehnissen, umso weniger interessiert es uns. Schliesslich tobt in Syrien seit vier Jahren ein Bürgerkrieg, welcher vergleichsweise wenig öffentliche Aufmerksamkeit kriegt. Der UN-Generalsekretär Ban Ki Moon schätzt die Opferzahl auf zweihundertfünfzigtausend Menschen. Und viele davon waren ebenfalls Zivilisten und Passantinnen, willkürliche Opfer. Und es waren die gleichen, die sie und die Pariserinnen und Pariser niederstreckten. Und wen wundert’s, dass ich mich in die Facebook Fraktion einreihe, die gerade nun mehr Mitgefühl für Flüchtlinge proklamiert, jetzt da wir nur einen Ansatz dessen, was sie in den letzten vier Jahren erlebt haben, kennen.
Uns haben diese Zahlen wachgerüttelt, unsere Angst geschürt. Europa, vielleicht doch nicht mehr so sicher wie geglaubt? Und im allgemeinen Affekt fallen Worte wie Krieg und Bombardements. Worte, die man ebenso wenig oder vielleicht noch weniger begreifen kann.
Egal, ob von uns genommen oder zu uns gebracht, Daesh konfrontiert uns mit Zahlen, die uns verunsichern. Die uns dazu bringen manchmal irrational, emotional und unmenschlich zu denken. Gestern haben wir an der Uni eine Schweigeminute abgehalten. Und diese eine Minute zog sich in die Länge. Für einmal spürten wir eine Zahl am eigenen Leibe. Hätten wir für je hundertneunundzwanzig syrische Bürgerkriegsopfer eine Schweigeminute abgehalten, wären wir knapp zweitausend Minuten, also zweiunddreissig Stunden schweigend gewesen. Jeden Tag lesen wir über Opferzahlen. Doch hinter diesen Zahlen verbergen sich Menschenleben, was wir oftmals nicht begreifen. Und ich weiss auch nicht, was jetzt wirklich helfen würde, aber vielleicht ist das Einzige, was wir in Zeiten wie diesen tun können, zu versuchen Zahlen besser zu begreifen, bevor wir mit Worthülsen um uns schiessen und Unschuldige treffen.
-Jeannie Schneider